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Die Seitenstraßen der Welt
Hallo, ich bin Cora Montini und mache mein Auslandsjahr in der Côte d’Ivoire (Bouaké). In meinem Freiwilligendienst habe ich das folgende Bild gemacht.
Bilder wie jenes begegnen uns fast täglich in den Medien. Nehmen wir uns doch dieses Mal einen Moment Zeit. Was siehst Du?
Was siehst du auf dem Bild?
Eine Straße, in festgetretene Erde übergehend und so voller Schlaglöcher, dass man meinen könnte, jemand habe versucht sie auseinanderzureißen. Eingerahmt von dicht stehenden kleinen, geradezu baufällig aussehenden Häusern und Geschäften, die sich vor der Hitze ducken. Es scheint beinahe verlassen, und abgesehen von ein paar Passanten sind nur im Schatten eines aus Brettern zusammengezimmerten Geschäfts ein paar schemenhafte Gestalten erkennbar. Niemand scheint wirklich verweilen zu wollen. Alles scheint voller Staub und der Müll, der immer wieder am Straßenrand liegt, sowie die Fliegen, die über einer kleinen Pfütze schwirren, assoziieren einen störenden Gestank.
Was könnte das Bild sonst noch erzählen??
Was denkst du, wenn du dies siehst. Eine ärmliche Szene, gar elend? Berichte aus einem Krisengebiet, eine Sackgasse ohne Hoffnung oder Zukunftsperspektive?
Aber wovon würde uns das Bild vielleicht noch erzählen wollen, wenn wir einen Moment länger Zeit hätten?
Vielleicht würde es von geschäftigem Treiben erzählen, das die Straße nachmittags erfasst und von der Musik, die ununterbrochen vom Markt herüberhallt. Von den Menschen, die sich auf dem Weg zur Arbeit begegnen, wobei aber jeder die Zeit findet, den anderen zu grüßen und sich nach dessen Wohlbefinden zu erkundigen. Dem Brummen, das in den Straßen vibriert, wie in einem geschäftigen Bienenstock, wobei sich bei genauerem Hinhören das Knattern der Motorräder und kleinen roten Taxis, die auf der Hauptstraße vorbeifahren, die Händler die sich gegenseitig über die Straße hinweg zurufen und quengelnde oder lachende Kinder heraushören lassen. Vielleicht würde es auch von den Scharen von Schüler*innen und Arbeiter*innen erzählen, die sich mittags laut diskutierend an den kleinen Straßenständen, wo immer etwas frisch Gekochtes geboten wird, etwas zu essen holen, oder an dem kleinen Kiosk den Tag mit einem Kaffee und Baguette beginnen.
Vielleicht mag der Geruch ungewohnt sein, doch dazwischen mischt sich der Duft nach gebratenem Fisch und gekochtem Reis. Ein Duft, der einen in die Höfe hinter den kleinen Häusern lockt, wo Frauen verschiedenen Alters das Essen zubereiten. Höfe, die teilweise auch mehrere Häuser verbinden, sodass ganze Familien und Generationen zusammenleben. Käme man nachmittags zu Besuch, träfe man sie wohl meist zusammensitzend vor, und bevor die Neuigkeiten ausgetauscht würden, würde aus Respekt, das älteste Familienmitglied zuerst begrüßt werden. Vielleicht wollte das Bild aber auch von den Abendstunden erzählen, wenn die Kleinsten der Familie im Hof in einer Waschschüssel geschrubbt werden, bis nur noch ein kleiner Schneemann zu sehen ist, oder von der Nacht, wenn die Straße erst richtig zum Leben erwacht: wie aus dem Nichts tauchen überall kleine Stände auf, an denen gegrillter Fisch und Hähnchen verkauft werden. Menschen sitzen zusammen und trinken in geselliger Runde etwas oder spielen Scrabble und von überall her schallt laut Musik. Das Bild würde von Lebensfreude, Gemeinschaft, Offenheit und Gastfreundschaft erzählen.
Vielleicht mag auch dies nicht alles sein, was das Bild erzählen kann, es gibt immer dunkle Winkel und Verschwommenes. Eins sollte immer klar sein, ein Bild hat nie die Möglichkeit alles zu erzählen.
Cora Montini, Auslandsjahr an der Côte d‘Ivoire (Bouaké), 2017/2018